Die schwerwiegendsten Beeinträchtigungen durch ein FASD liegen im Bereich der sogenannten Exekutiven Funktionen (EF). Das heißt, dass alle Vorhaben, die mehrere aufeinander abgestimmte Handlungsschritte über eine längere Zeitschiene erfordern, meistens scheitern, oft trotz guter Vorsätze. Das Zusammenspiel mehrerer Kompetenzen, wie theoretische Planung, praktische Organisation, die Beherrschung verschiedener Kommunikationsformen, Selbstregulierung, Merkfähigkeit, Improvisation, Frustrationstoleranz etc. funktioniert nicht ausreichend und lässt sich weder durch Vorsatz noch durch Anleitung nachhaltig verbessern. Auch das Lernen durch Erfahrung weicht sehr von normalen Standards ab. Schon die Bewältigung alltäglicher Aufgaben ist oft eine Überforderung. Hier entsteht sowohl bei den Betroffenen als auch den Angehörigen allergrößte Frustration, gehören dazu doch Fähigkeiten, welche die meisten Menschen so mühelos beherrschen, dass sie sich dessen noch nicht mal bewusst sind.
Ist die hirnorganische Ursache dieses massiven Defizits nicht bekannt, kommt es im Alltag immer wieder zu Erwartungen, welche die Betroffenen dann regelmäßig enttäuschen. Weil sie auf den ersten und zweiten Blick nicht so wirken, traut man ihnen mehr zu und wird nach einigen Wiederholungen solcher Enttäuschungen reflexartig nach Erklärungen suchen. Die meint man als Laie dann in persönlichem Fehlverhalten zu finden, vermutet sogar Vorsatz und mutwillige Täuschung, ist verärgert, weil selbst mit großer Emphase getroffene Vereinbarungen nicht eingehalten werden und kein nennenswertes Schuldgefühl erkennbar ist.
In psychiatrischen Zusammenhängen reagiert man natürlich „professioneller“, kann man die Defizite doch lehrbuchmäßig mit den Defiziten einiger psychischer Erkrankungen erklären. Und ja, das kommt bei einer zusätzlichen oder komorbiden psychischen Erkrankung auch verstärkend hinzu. Auch die zusätzlichen Einschränkungen der Motivation und Erlebnisfähigkeit durch die unvermeidliche Behandlung mit Psychopharmaka und deren teils heftigen Nebenwirkungen passen ins Bild. Dadurch wird die Beurteilung der Ursachen für die Einschränkung der Exekutiven Funktionen ohne spezielles Wissen zu FASD nahezu unmöglich. Dass hinter den Defiziten eine Behinderung mit organischen Ursachen stecken könnte, wird nicht mehr gesehen. Dass eine unvollständige oder gar Fehleinschätzung wiederum ihre eigenen Konsequenzen hat, bis hin zur Fehlbehandlung, schließt den Teufelskreis, denn auch das verstärkt die ausschließliche Sicht auf die psychische Erkrankung.
Erst beim näheren Hinsehen und mehreren Erfahrungen, unter welchen Umständen Störungen der Exekutiven Funktionen zum Tragen kommen, entdeckt man einen Unterschied zu Störung dieser Funktionen, wie sie auch durch andere psychische Erkrankungen verursacht werden. Signifikant ist: Therapieerfolge bei den psychischen Problemen wirken sich nicht oder nur geringfügig auf die Defizite bei den Exekutiven Funktionen aus. Sie bleiben quasi konstant. Auffällig ist auch, dass die Störungen bei außergewöhnlicher emotionaler Motivation kurzfristig überwunden werden können, was den tragischen Kreislauf von Erwartung und Enttäuschung eher befeuert.
Wenig erforscht ist die Auswirkung der Defizite bei den Exekutiven Funktionen auf die allgemeinen Fähigkeiten zur kognitiven Differenzierung, zumal die meisten Betroffenen eine weitgehend normale Intelligenz haben. Kognitive Einschränkungen werden normalerweise nur geistig Behinderten zugeordnet werden, die für diesen Status gemäß ICD einen IQ unter 70 haben müssen. Hinzu kommt, dass Fähigkeiten zur kognitiven Differenzierung mit den üblichen Tests nicht erfasst werden. Ein Defizit dahingehend äußert sich vor allem beim Verständnis von komplexeren Konzepten mit abstrahierenden Elementen, die das Zusammenspiel – oder besser die Zusammenschaltung – grundlegender Kompetenzen auf mehreren Ebenen erfordert, wie Wissen, Gefühl, Begreifen eines komplexen Sachzusammenhangs, gesellschaftliche Konvention, Moral, Ethik, Wahrnehmung anderer, Logik, Kritik. Aus diesem Grund sind trotz normaler Intelligenz, oft hoher Sensibilität und ausreichendem faktischem Verständnis vielschichtige Konzepte entweder per se eine Überforderung oder werden erst gar nicht verstanden oder überhaupt gesehen.
Für therapeutische Strategien hat das insofern Auswirkungen, als das tiefere Erkennen und Verständnis für eigen-psychologische Prozesse, wie sie für die meisten psychotherapeutischen Prozesse vorausgesetzt werden, nicht ausreicht. Das Verständnis für komplexere Verhaltensregeln, wie sie zum Beispiel in Beziehungen oder am Arbeitsplatz gelten, bleibt unterentwickelt. Dementsprechend sind die praktischen Konsequenzen in diesen Bereichen. Freundschaften und Liebesbeziehungen sind schwierig, regelmäßiges Arbeiten in komplexeren Ausbildungsberufen nahezu unmöglich. Talente und Kompetenzen können nicht ausgeschöpft, Ressourcen nicht genutzt werden. Die meisten würden sich auch nur mit äußerer Unterstützung entfalten. Dafür gäbe es Konzepte, aber man muss um die spezifischen Grenzen bei einer Schädigung durch FASD wissen und sie auch verinnerlicht haben, um die täglichen Abweichungen vom Regelwerk in beiden Bereichen mitzutragen.
Die kognitiven Einschränkungen erinnern besonders im Bereich der Merk- und Lernfähigkeit an Symptome einer Demenz. Gelerntes oder Begriffenes wird wieder vergessen, selbst wenn man der Überzeugung war, dass jemand etwas (endlich) verstanden oder gelernt hat. Den Betroffenen ist das meist nicht bewusst. Sie leiden vielmehr sehr real unter dem Ärger ihrer Umwelt, die diesen ohne Wissen um FASD kaum unterdrücken kann. Bei den Betroffenen löst dieser Ärger wiederum oft* – aus ihrer Sicht zurecht – aggressive Gegenwehr aus, hat man doch die Ursache für den Ärger anderer vergessen. Man fühlt sich grundlos einfach nur schlecht und ungerecht behandelt. Auch dazu wieder die Erwähnung, dass allein dieser Wirkmechanismus seine eigenen Konsequenzen hat. Auch Menschen ohne FAS oder psychische Erkrankungen würden sich verändern, wenn sie sich dauerhaft nicht verstanden und ungerecht behandelt fühlen.
*Begriffe wie oft, meistens oder ähnliche sind absichtlich gewählt, weil es sich bei FASD um ein Syndrom mit sehr vielfältigen und selten einheitlichen Ausprägungen handelt. Die individuellen Unterschiede können sehr groß sein, was die Erkennbarkeit entsprechend schwierig macht.
Eine andere Konsequenz der bisher geschilderten kognitiven Defizite ist die meist eingeschränkte oder erheblich entwicklungsverzögerte Ausprägung einer altersgerechten beziehungsweise reifen Selbsteinschätzung. Ähnlich den Einschränkungen bei den Exekutiven Funktionen ist sie, unabhängig von therapeutischen Erfolgen bei anderen psychischen Problemen, recht konstant und wenig entwicklungsfähig, selbst nach extremen Erfahrungen. Hierfür gibt es allerlei Kompensationen der Betroffenen, die auch alle an Verdrängungsmechanismen bei anderen psychischen Störungen erinnern und von daher ohne spezielles Wissen kaum zu unterscheiden sind. Selbstvertrauen und Zuversicht können einerseits mangels realistischer Selbsteinschätzung und eingeschränkter Lernfähigkeit erhöht sein, sind aber genau deswegen wenig authentisch. Die Differenz zwischen mündlicher Selbstdarstellung und praktischer Selbstwirksamkeit ist signifikant. Da viele über gute sprachliche Fähigkeiten und eine hohe Sensibilität für die Erwartungen anderer verfügen, die ohne Wissen um FASD meistens überhöht sind, ist der Typus des Blenders nicht selten.
Aus Sicht eines Betroffenen ist dieses Verhalten verständlich, denn obwohl FASD kein psychisches Problem ist, sind seine Auswirkungen für die Betroffenen kränkend. Kränkungen führen auch bei Menschen ohne zerebrale Schädigungen zu heftigen psychischen Reaktionen und kompensierenden Verhaltensmustern. Überhaupt sind die zahlreichen Verhaltensauffälligkeiten von FASD-Betroffenen nicht nur eine Folge der Schädigungen, sondern sollten auch als oft normale Reaktionen auf eine kränkende Lebenssituation gesehen werden, für deren Bewältigung ihnen die Mittel fehlen. Sie sind vielmehr auf Verständnis und Unterstützung anderer angewiesen. Stattdessen kommt es auch hier nicht selten zu Fehlinterpretationen bis dahin, dass die Verhaltensauffälligkeiten als Persönlichkeitsstörungen gesehen und behandelt werden.
FASD kennzeichnet vor allem alltägliche Überforderung. Auch die schlägt sich nicht adäquat in den gängigen Tests nieder. Es gibt zwar Hinweise auf mangelnde Konzentrationsfähigkeit und eine langsame Informationsverarbeitung, unabhängig von sonstigen Befindlichkeiten, aber die Fähigkeiten, sich selbst zu helfen zeigen sich eher nicht in einer Testsituation. Dabei ist gerade diese oft auf einem sehr niedrigen Niveau.
Die Affinitität für psychogene Substanzen – falls nicht sowieso meistens durch genetische und soziale Dispositionen angelegt – ist erhöht. Eine Behandlung entsprechend schwierig, weil Substanzen wie Speed oder Kokain als Normalisierung der Gehirntätigkeit empfunden werden. Es hilft die mangelnde Konzentration und innere Unruhe zu regulieren. Wie Ritalin bei ADHS hilft es den Betroffenen sich zu fokussieren und somit normale Tätigkeiten vollenden zu können. Es wird dementsprechend auch bei FASD als Therapeutikum eingesetzt.
Zusammenfassung
Dass eine organische Schädigung der zerebralen Funktionen die Leistungs- und Entwicklungsfähigkeit einschränkt, liegt auf der Hand. Dass diese Einschränkungen Konsequenzen haben werden, die sich in mentalen, seelischen und psychischen Störungen sowie allerlei Verhaltensauffälligkeiten niederschlagen, ist naheliegend. Dass diese leicht mit dem weiten Spektrum von Störungen durch rein psychische Erkrankungen, Traumata etc. verwechselt werden, ebenso. Das auseinander zu dröseln, zumal die helfenden Berufe hier nicht unbedingt zu gleichen Ergebnissen kommen, ist für die Betroffenen nicht hilfreich und zusätzlich verwirrend. Es braucht die Bündelung fachübergreifender Kompetenzen, um mit FASD einen Umgang zu finden, der sich auch im Sinne einer gerechten Teilhabe auswirkt.
Für englischsprachige Leser, die das Thema vertiefen möchten, empfehlen wir das Interview mit Dr. Susan Rich auf dem Blog FASD Success. Dr. Rich eräutert, warum wir trotz aller Kenntnisse über FASD immer noch mit Problemen bei Prävention, Bewusstsein, Erkennung und Unterstützung zu kämpfen haben.