Ein Dorf für alle – Helfen statt Heilen

Ideen zu Lösun­gen für die Lebens­pro­ble­me von Erwach­se­nen mit FASD und ver­gleich­ba­ren Stö­run­gen, gehen von nahezu allen Ange­hö­ri­gen und Fach­leu­ten in die glei­che Rich­tung: Es braucht Team­work mit den Qua­li­tä­ten von per­sön­li­chen Bezie­hun­gen, quasi eine Art Groß­fa­mi­lie, um für die all­täg­li­chen Belas­tun­gen einen Umgang zu finden, mit dem alle leben können.

Mit der Hilfe für diese Men­schen ist jemand allein, sei es ein Ange­hö­ri­ger, eine Betreu­ung oder eine Ein­rich­tung, kom­plett über­for­dert.

Das Bun­des­teil­ha­be­ge­setz (BTHG), als aus­füh­ren­de Geset­zes­grund­la­ge der über­ge­ord­ne­ten Inklu­si­ons­grund­sät­ze, setzt dafür unmiss­ver­ständ­li­che Maß­stä­be. Um eine auf gleich­be­rech­tig­te Teil­ha­be zie­len­de Ver­sor­gung zu errei­chen, sollen Pflege, Betreu­ungs- und Inte­gra­ti­ons­leis­tun­gen mit­ein­an­der ver­schränkt werden. Fehlen dafür not­wen­di­ge Struk­tu­ren, Fach­kräf­te oder andere Res­sour­cen, müssen diese orga­ni­siert werden. Leere Kassen seien kein Argu­ment. Kran­ken­kas­sen bieten seit­dem sog. Inte­grier­te Ver­sor­gun­gen an, was heißt, dass Set­ting-über­grei­fen­de Betreu­ungs­leis­tun­gen sta­tio­nä­re mit ambu­lan­ten Behand­lun­gen ver­bin­den sollen, welche auf die Lebens­welt der Betrof­fe­nen abge­stimmt sind. Stu­di­en wie „Reco­ver“ unter der Lei­tung des UKE hatten eben­falls zum Ziel, die nie­der­ge­las­se­nen Ärzte mit den Kran­ken­häu­sern und Kli­ni­ken zu ver­bin­den und mit sozia­len Ein­rich­tun­gen zu ver­net­zen. Soweit jeden­falls die Theo­rie. In der Praxis werden diese hehren Absich­ten leider kon­ter­ka­riert, allem voran durch den Mangel an Per­so­nal und Res­sour­cen.

Ein kon­se­quen­tes Pro­jekt

Eine Idee, die antritt, um diese realen Umstän­de zu ver­bes­sern, muss also vier Dinge berück­sich­ti­gen

  • den Wis­sens­rück­stand und den damit ver­bun­de­nen Mangel an Fach­kräf­ten
  • feh­len­de Ver­net­zung und Zusam­men­ar­beit
  • Res­sour­cen­knapp­heit
  • juris­ti­sche Gren­zen des der­zei­ti­gen Betreu­ungs­rechts

Unsere Idee „Ein Dorf für alle“ berück­sich­tigt diese Vor­aus­set­zun­gen und behaup­tet, für manche der Mängel eine Lösung zu bieten. Wegen dem drin­gen­den Bedarf war uns wich­tig, dass unser Pro­jekt wesent­lich schnel­ler zu rea­li­sie­ren sein könnte, als ver­gleich­ba­re Ideen zu Wohn- und Sozi­al­pro­jek­ten mit ent­spre­chen­den Immo­bi­li­en.

  • Auf einer unbe­bau­ten, vor­zugs­wei­se städ­ti­schen Fläche mit guter Anbin­dung soll eine Ansamm­lung von sog. Tiny Houses und mobi­len Wohn­con­tai­nern errich­tet werden. Aus bestimm­ten Modu­len werden Gemein­schafts- und andere Nutz­räu­me zusam­men­ge­stellt, gemäß beson­de­rer Funk­tio­nen umge­baut bzw. kon­kret dafür her­ge­stellt.
  • Die Bewoh­ner werden gezielt gemischt aus­ge­wählt. Ein Teil der Häuser sind für Men­schen mit FASD und ähn­li­chen Behin­de­run­gen reser­viert, ein wei­te­rer für die benö­tig­ten sozia­len Fach­kräf­te. Dane­ben sind Men­schen aller Art will­kom­men, die sich genau solche Wohn­wel­ten wün­schen oder ken­nen­ler­nen wollen. Das können sowohl ältere Men­schen sein, die nach ihrem Arbeits­le­ben noch eine Auf­ga­be oder ein­fach gemein­schaft­li­che­re Lebens­for­men suchen, junge Leute, die sich in Aus­bil­dung befin­den, Men­schen deren finan­zi­el­le Mittel ein­ge­schränkt sind usw.
  • Für die Bewäl­ti­gung all­täg­li­cher Auf­ga­ben gibt es zahl­rei­che gemein­schaft­li­che Ange­bo­te mit nied­rig­schwel­li­gen Verpflichtungen/​Beteiligungen. Das­sel­be gilt für die Frei­zeit­ge­stal­tung.
  • Mit­tel­fris­tig sollen Koope­ra­tio­nen mit dem Ent­las­sungs­ma­nage­ment ver­schie­de­ner Ein­rich­tun­gen ent­ste­hen, z.B. Psych­ia­trien, Reha-Kli­ni­ken, dem The­ra­pie­zen­trum der Uni­ver­si­tät HH u.Ä. Eine Ver­schrän­kung oder Koope­ra­ti­on mit bestehen­den Ein­rich­tun­gen wie der Lebens­hil­fe, der Pes­ta­loz­zi-Stif­tung, dem Rauhen Haus, der Als­ter­dorf-Stift, oder dia­ko­ni­schen Ein­rich­tun­gen wird ange­strebt.
  • Die medi­zi­ni­sche Betreu­ung wird über inte­grier­te, oder nahe­ge­le­ge­ne Beleg­pra­xen nie­der­ge­las­se­ner Ärzte und The­ra­peu­ten gewähr­leis­tet.
  • Idea­ler­wei­se sollen in Koope­ra­ti­on mit der Arbeits­agen­tur auf dem Gelän­de, als auch in den Betrie­ben der nähe­ren Umge­bung, Arbeits- und Beschäf­ti­gungs­an­ge­bo­te ent­ste­hen und bedarfs­ge­recht ent­wi­ckelt werden
  • Weil viele Kon­zept­ele­men­te Pilot­cha­rak­ter haben, soll das Pro­jekt von Anfang an von For­schungs- und Stu­di­en­pro­jek­ten beglei­tet werden, die ent­we­der durch eigene Initia­ti­ven ent­ste­hen oder von bestehen­den Ein­rich­tun­gen an die Betrei­ber des Pro­jekts her­an­ge­tra­gen werden.
  • Ein Ziel der For­schun­gen könnte sein, das Pro­jekt über einen 5‑jahres Zeit­raum soweit zu eva­lu­ie­ren, sodass man es als quasi sozia­les Fran­chise-Pro­jekt lang­fris­tig welt­weit anbie­ten kann.
  • Für das Per­so­nal bestehen­der Ein­rich­tun­gen könnte das Pro­jekt Arbeits­plät­ze mit Fort­bil­dungs­cha­rak­ter ein­pla­nen.

Den kon­kre­ten Kon­zept- und Finan­zie­rungs­plä­nen soll eine geson­dert finan­zier­te Bedarfs- und Mach­bar­keits­stu­die vor­aus­ge­hen. Die Mittel für die Aufbau- und Unter­hal­tungs-Finan­zie­rung soll nur antei­lig über die übli­chen öffent­li­chen Träger ein­ge­holt werden. Ein bedeu­ten­der Teil soll durch Spon­so­ren, Inves­to­ren, pri­vat­wirt­schaft­li­che Betei­li­gun­gen, Crowd­fun­ding und För­de­run­gen gestellt werden. Allein der Unter­halt und die Hil­fe­leis­tun­gen der Betrof­fe­nen soll mit den her­kömm­li­chen Mit­teln finan­ziert werden.

Qua­li­fi­ka­tio­nen

Par­al­lel zur Pla­nung und Ent­wick­lung des Pro­jekts sollen sofort alle Mög­lich­kei­ten genutzt werden, für Ham­burg eigene Aus- und Fort­bil­dungs­mög­lich­kei­ten zu schaf­fen. Kurz­fris­tig ist das in Zusam­men­ar­beit mit bestehen­den Trä­gern in Form von Fach-Semi­na­ren geplant, mit­tel­fris­tig wollen wir Ham­bur­ger Hoch­schu­len anspre­chen, um zer­ti­fi­zier­te Lehr­gän­ge zu schaf­fen. Hier­bei denken wir zuerst an Freie Uni­ver­si­tä­ten, wie die Buce­ri­us Law School, die Hoch­schu­le Fre­se­ni­us und/​oder die Hafen­Ci­ty Uni­ver­si­tät, eben weil sie freier in ihrer Ent­schei­dung wären, solche Lehr­gän­ge kurz­fris­tig ein­zu­rich­ten. Aber auch die Uni­ver­si­tät Ham­burg, die HAW und die Fach­hoch­schu­len werden wir anspre­chen.

Warum diese Form?

FASD gilt auch als grund­le­gen­de Trau­ma­ti­sie­rung. Hinzu kommen in den meis­ten Fällen sozia­le Trau­ma­ti­sie­run­gen. Inwie­weit die häu­fi­gen Fehl­be­hand­lun­gen auch trau­ma­ti­sie­ren­de Effek­te haben, ist anzu­neh­men, aber nicht erforscht. Aus den beiden Fak­to­ren, hirn­or­ga­ni­sche Schä­di­gung und Trau­ma­ti­sie­rung ergibt sich ein Schwer­punkt, der nicht auf The­ra­pien und Reha­bi­li­ta­tio­nen liegt, deren Maß­stä­be im Übri­gen alle­samt von „nor­ma­len“ Men­schen gesetzt wurden, son­dern auf der Lebens­welt, dem Set­ting. Oder anders gesagt: Nicht The­ra­pien, Ziel­ver­ein­ba­run­gen und Medi­ka­men­te, son­dern eine der Behin­de­rung ent­ge­gen­kom­men­de Lebens­welt bietet den Betrof­fe­nen eine maxi­ma­le Annä­he­rung an ein nor­ma­les Leben, oder hat zumin­dest lin­dern­de Effek­te. Die zur­zeit ver­füg­ba­ren Ein­rich­tun­gen können die meis­ten Pro­ble­me von Men­schen mit einem FASD-Hin­ter­grund nicht lösen. Beson­ders die für FASD typi­sche Über­for­de­rung bei oft all­täg­lichs­ten Situa­tio­nen wird meist unter­schätzt. Manche Set­tings trig­gern sie regel­recht. Dadurch ent­ste­hen neue Pro­ble­me, ein Teu­fels­kreis­lauf.

In dem von uns gedach­ten „Dorf“ hin­ge­gen, wird der Tat­sa­che einer per­ma­nent unter­schätz­ten Über­for­de­rung beson­ders Rech­nung getra­gen. Sie ist sozu­sa­gen Maß­stab für alle Struk­tu­ren. Das Set­ting soll als Erstes Sicher­heit ver­mit­teln, die Struk­tu­ren dienen dazu Halt und Ori­en­tie­rung vor­zu­ge­ben und durch die nied­rig­schwel­li­ge Betei­li­gung an deren Orga­ni­sa­ti­on soll die Erfah­rung an Selbst­wirk­sam­keit gestärkt werden. Nur so können Betrof­fe­ne ihrem labi­len Erre­gungs­ni­veau ent­kom­men und Erfah­run­gen sam­meln, wie sie in einer pas­sen­den Umge­bung doch sowas wie Selbst­re­gu­la­ti­on lernen können. Ein Defi­zit, das ihnen in einer „nor­ma­len“ Lebens­welt oft jede Chance ver­saut.

Geschicht­li­cher Aus­blick

Ehr­lich gesagt ist die Grund­idee über­haupt nicht neu. Eine erste, inno­va­ti­ve, dorfähn­li­che Unter­brin­gungs­form auf Ham­bur­ger Stadt­ge­biet für psy­chisch Kranke stammt aus dem Jahre 1893 und nennt sich heute Kli­ni­kum Och­sen­zoll. Hier grün­de­te die heu­ti­ge Schön Klinik (Eilbek) auf einem 130 ha großen Wald­grund­stück eine land­wirt­schaft­li­che geprägt Außen­stel­le der dama­li­gen „Irren­an­stalt“ Eilbek.

In Erman­ge­lung aus­rei­chen­der phar­ma­ko­lo­gi­scher Mittel hatte man schon damals erkannt, dass struk­tu­rier­te Set­tings in aus­rei­chend reiz­ar­mer Umge­bung häufig die ein­zi­ge Mög­lich­keit sind, psy­chisch erkrank­te oder behin­der­te Men­schen lang­fris­tig in einer lebens­wer­ten Umge­bung unter­zu­brin­gen.

Im Laufe der Zeit ist die „dörf­li­che Idee“ ver­lo­ren gegan­gen und hat sich mit der phar­ma­ko­lo­gi­schen Ent­wick­lung in ein „Kran­ken­haus“ und ein „Kran­ken­haus mit Git­tern“ (die Foren­sik) ver­wan­delt. Im Zuge der Pri­va­ti­sie­rung hat dann ein gewinn­ori­en­tier­ter Kli­nik­be­trei­ber den Groß­teil des 130ha großen Kli­nik­ge­län­des abge­trennt und mit hoch­wer­ti­gem Wohn­raum bebau­en lassen.

Ähn­lich wie Och­sen­zoll erging es ähn­lich ange­leg­ten „Heil­stät­ten“ in ande­ren Bun­des­län­dern. Im Ver­trau­en auf phar­ma­ko­lo­gi­sche und the­ra­peu­ti­sche Ent­wick­lung wurden immer grö­ße­re „Ein­hei­ten“ auf immer klei­ne­ren Flä­chen zusam­men­ge­fasst. Diese Form des Set­tings stößt jetzt an seine Gren­zen! Nicht nur durch die Zunah­me der Bedar­fe, son­dern auch durch neue Erkennt­nis­se und Ansprü­che, deren Nie­der­schlag man im BTHG findet.

Durch die Ver­wen­dung von sog. Tiny Houses für die Unter­brin­gung und Mes­se­pa­vil­li­ons, Büro­con­tai­nern und Leicht­bau­hal­len für die Funk­ti­ons­bau­ten sind die Erschlie­ßungs­kos­ten für ein Grund­stück recht güns­tig. Durch die Ver­wen­dung von Schraub­fun­da­men­ten und den Ver­zicht auf asphal­tier­te Wege findet keine nach­hal­ti­ge Boden­ver­sieg­lung oder ein „Grund­stücks­ver­brauch“ statt. Durch die klein­tei­li­ge, land­wirt­schaft­li­che Nut­zung und die Anlage von Baum- und Busch­be­stand erfolgt ggf. eine öko­lo­gi­sche Auf­wer­tung des Grund­stücks.

Aus Grün­den eines öko­no­misch sinn­vol­len Betriebs der Ein­rich­tung halten wir eine Pla­nung für max.100 Pati­en­ten für ange­zeigt. Die benö­tig­te Fläche beträgt dafür min­des­tens 80 – 100 ha.

Wei­te­re Gesichts­punk­te

Eine Fläche dieser Grö­ßen­ord­nung dürfte auf Grund der Grund­stücks­prei­se und der Dring­lich­keit ande­rer Ver­wen­dungs­ab­sich­ten in Ham­burg z.Zt. nicht ver­füg­bar sein. Hier wird es vom Erfolg unse­rer poli­ti­schen Arbeit abhän­gen, ob wir län­ger­fris­tig die regie­ren­den Par­tei­en von der Not­wen­dig­keit eines sol­chen Pro­jekts über­zeu­gen können. Nach unse­rer Ein­schät­zung würde eine Bedarfs­prü­fung unsere Behaup­tun­gen dahin­ge­hend eva­lu­ie­ren. Die not­wen­di­gen Daten dafür wollen wir in Zusam­men­ar­beit mit allen an der Ver­sor­gung betei­lig­ten Ein­rich­tun­gen zusam­men­tra­gen. Wir hoffen darauf, dass die Kran­ken­kas­sen, die kas­sen­ärzt­li­che Ver­ei­ni­gung, die Ärz­te­kam­mer, die Kran­ken­häu­ser mit psych­ia­tri­scher Ver­sor­gung und die zustän­di­gen Behör­den die wach­sen­den Bedar­fe und erhöh­ten Anfor­de­run­gen schon regis­triert haben und bereits ein eige­nes Inter­es­se an einer sol­chen Bedarfs­prü­fung mit­brin­gen.

Schon seit eini­ger Zeit beob­ach­ten wir die Ver­su­che der Ham­bur­ger Ein­rich­tun­gen für die Betreu­ung psy­chisch Kran­ker und Behin­der­ter drin­gend benö­tig­te, zusätz­li­che Plätze durch Nach­ver­dich­tung bestehen­der Stand­or­te zu schaf­fen. Denn man rech­net damit, dass in naher Zukunft die Ham­bur­ger Justiz man­gels geeig­ne­ter Plätze keine Lang­zeit­un­ter­brin­gun­gen für psy­chisch Kranke mehr beschlie­ßen wird. Damit folgt die Justiz unse­rer Ein­schät­zung, dass die Unter­brin­gung in einem sowie­so schon hoch-ver­dich­te­ten, urba­nen Reiz­kli­ma unse­rer Ziel­grup­pe nicht zuge­mu­tet werden kann. Ob und zu wel­chem Preis sich angren­zen­de Bun­des­län­der dann bereit erklä­ren werden, Ham­burg diese Last abzu­neh­men, ist somit wohl nicht nur eine Frage des Prei­ses, son­dern auch von der Qua­li­tät der Plätze. Dass wir aus den oben genann­ten Grün­den vor­erst auf eines der angren­zen­den Bun­des­län­der als Stand­ort aus­wei­chen müssen, kommt dem ent­ge­gen, denn wir bieten diese Qua­li­tät.

Nach den Ergeb­nis­sen der bis­he­ri­gen Inves­to­ren­su­che besteht für die Errich­tung unse­rer Ein­rich­tung keine Finan­zie­rungs­be­darf durch die öffent­li­che Hand, einzig für die Grund­stücks­be­schaf­fung und das Pla­nungs­recht sind wir auf ent­spre­chen­de Hilfen der öffent­li­chen Hand ange­wie­sen.

Udo Beis­sel und Peter Konrad Ret­ten­bach.