Satt und sauber – wenn Liebe und Für­sor­ge für Kinder schon vor der Geburt fehlen.

Ein Inter­view mit Anni (Name geän­dert), 54 Jahre alt von Nevim Krüger, geführt im Juni 2022.

Ich treffe mich heute mit Anni. Sie ist eine freund­li­che, hüb­sche, etwas ängst­lich wir­ken­de kleine Frau mit fun­keln­den Augen; fast ein biss­chen kind­lich wirkt sie.

Wir kennen uns bereits durch Tele­fo­na­te und ein Tref­fen. In den vor­he­ri­gen Gesprä­chen war ich gleich begeis­tert von Annis wun­der­ba­ren Art zu erzäh­len. Sie berich­tet, dass sie einen Film über Men­schen mit FASD gese­hen hat und dass sie anschlie­ßend dachte: Im Ver­gleich zu denen geht es mir eigent­lich gut! Oder?

Gerade das hat mich inter­es­siert und sie war sofort bereit, von sich und ihrem Leben zu erzäh­len.


Was glaubst Du, warum geht es dir im Ver­gleich zu ande­ren erwach­se­nen Men­schen mit FASD besser?

Anni: Als mein klei­ner Bruder so unge­fähr 5 Jahre alt war, hatte er meiner Mutter Geld gestoh­len, um mir ein klei­nes Geburts­tags­ge­schenk zu kaufen. Er hatte eine tolle Was­ser­pis­to­le gese­hen, die sollte es sein. Sie hat ihn erwischt. Zur Strafe hat sie ihn mit ihrer Gerte aus­ge­peitscht. Mein älte­rer Bruder und ich hatten das völlig fas­sungs­los aus dem Neben­zim­mer durch die Glas­tür beob­ach­tet. Dieser Schock hat sich so ein­ge­brannt in mir, dass ich es nie­mals gewagt hätte, etwas Ver­bo­te­nes zu tun. Unsere Mutter war nie eine zuge­wand­te oder lie­be­vol­le Mutter. Wir muss­ten satt und sauber sein, zur Schule gehen, nicht stören und dann schla­fen. Unser Vater hat sich nicht gegen unsere Mutter gestellt, war aber wesent­lich freund­li­cher zu uns.

So trau­rig der Grund auch sein mag, ich glaube, dieser tief­sit­zen­de Schock hat mich vor ande­rem „Unheil“ bewahrt. Ich war immer ein sehr unter­wür­fi­ger und ange­pass­ter Mensch, auch wenn es mir inner­lich so viel Druck und Scha­den zuge­fügt hat. Sowohl zuhau­se als auch später im Inter­nat und in meinen Beru­fen.

Wie kamst du über­haupt darauf, dass du FASD haben könn­test?

Anni: Ich habe eine Zeit als Unter­stüt­zungs­kraft in einer Kita gear­bei­tet und dort war ein klei­ner Junge, zu dem ich irgend­wie eine andere, inten­si­ve­re Bezie­hung hatte als zu all den ande­ren Kin­dern. Er war sehr unru­hig und zum Mit­tags­schlaf habe ich mich immer zu ihm gelegt, damit er ruhi­ger wurde. Irgend­wann fragte ich die Grup­pen­lei­tung, was mit ihm sei. Sie ant­wor­te­te: er ist ein Kind mit FASD. Ich ließ mir erklä­ren, was das ist und konnte ab da an nichts ande­res mehr denken. Mir fielen gleich die Fotos meiner Mutter ein, auf denen sie auch schwan­ger Alko­hol in der Hand hielt. Ich kannte meine Mutter nur trin­kend. Ich ent­schloss, sie direkt zu fragen. Sie war ganz erstaunt und sagte: ja, klar. Alle haben immer getrun­ken. Ist doch nichts dabei.

Es fiel mir wie Schup­pen von den Augen. Mit großer Wahr­schein­lich­keit hatten auch meine Brüder die glei­che Schä­di­gung wie ich. Hin­wei­se darauf gibt es viele.

Ich besorg­te mir ein Buch über FASD mit umfas­sen­den Infor­ma­tio­nen und Hin­wei­se zu Mög­lich­kei­ten zur Dia­gno­se­stel­lung. Bis zur Dia­gno­se in Berlin bei Prof. Spohr hat es dann noch einmal ca. 1,5 Jahre gedau­ert, auf Grund von Corona. Nun war es also klar; ich habe FASD. Es war ein komi­sches Gefühl. Irgend­wie nie­der­schmet­ternd und doch so befrei­end. All meine Pro­ble­me all die Jahre. Ich war kein Tau­ge­nichts, ich war nicht ver­rückt, ich war keine Ver­sa­ge­rin. Ich bin ein Mensch mit einem nicht wieder zu hei­len­den Hirn­scha­den.

Seit dem plötz­li­chen Unfall­tod meines jüngs­ten Bru­ders vor über 30 Jahren war ich in Psy­cho­the­ra­pie. Nie konnte mir gehol­fen werden. Immer schei­tern, vor allem nach innen.

Nun war klar, ich habe eine Behin­de­rung. Das Kind hat einen Namen. Gut so.

Was sind deine täg­li­chen Hürden im Alltag? Was fällt dir beson­ders schwer?

Anni: Es fällt mir so schwer, mich zu spüren. Zu spüren, was ich brau­che und was vor allem nicht. Zu spüren, wann es zu viel, zu laut, zu warm, zu kalt und zu gefähr­lich für mich ist. Ich will es immer allen recht machen und das macht mich dann ein­fach meis­tens fertig.

Ich kann auch nicht so gut nett zu mir selbst zu sein. Ich glaube immer, ich habe es nicht ver­dient mich aus­zu­ru­hen und Angst, andere zu ent­täu­schen.

Anfor­de­run­gen, die an mich gestellt werden, über­for­dern mich. Das macht mir so viel Druck.

Beson­ders belas­tend emp­fin­de ich die große Ein­sam­keit. Ich bin so froh, zu wissen, dass es noch meh­re­re Men­schen wie mich gibt. Es ist nur sehr schwer sie zu finden und dann zuein­an­der zu kommen. Ich gehe jetzt in eine Selbst­hil­fe­grup­pe. Außer meinen Hund habe ich eigent­lich nie­man­den, der mir wirk­lich guttut.

 Ich habe in den ver­gan­ge­nen 30 Jahren immer gear­bei­tet. Einige Jahre in einer PR-Agen­tur. Das hat sogar gut funk­tio­niert. Die Chefin mochte mich gern und hat mir Auf­ga­ben über­tra­gen in Berei­chen, die mir lagen und ich konnte das gut schaf­fen. Sie hat mich immer nett behan­delt, mich gelobt für meine Arbeit und hat mich schein­bar ver­stan­den.

Dann habe ich noch eine ganze Zeit als Erzie­he­rin gear­bei­tet. Ich konnte mich gut ori­en­tie­ren durch die täg­li­che Struk­tur und wieder durch eine Vor­ge­setz­te, die mir eine klare Rich­tung vorgab und mich schätz­te. Als diese Vor­ge­setz­te weg­ging, sollte ich die Gruppe über­neh­men. Das hat mich maßlos über­for­dert, ich konnte das nicht leis­ten. Mir fehlte die Leit­fi­gur, ich konnte das nicht sein.  Um Leis­tun­gen zu erbrin­gen, brau­che ich klare Vor­ga­ben und jeman­den, der für mich Gren­zen setzt. Ich habe dann meine Stun­den deut­lich redu­ziert und meine Chefin räumte mir mehr Pausen ein. Mitt­ler­wei­le erhal­te ich Erwerbs­min­de­rungs­ren­te.

Was ent­las­tet dich, was hilft dir ganz beson­ders im Alltag und im Leben all­ge­mein?

Anni: Zu wissen, wie ich ticke! Ich benut­ze Mein Sor­tier­buch (Ralf Neier & Teresa Löbbel), das ich für mich ange­passt habe. Das hilft mir sehr, mich zu reflek­tie­ren und auch Ängste vor Ter­mi­nen etc. abzu­bau­en.

Mir hilft es immer mehr, dass ich akzep­tie­ren kann, bestimm­te Dinge nicht zu können, weil ich sie ein­fach nicht können kann und nicht, weil ich dumm, faul oder sonst was bin. Das ent­las­tet mich sehr, gleich­zei­tig macht es natür­lich auch trau­rig. Aber das war ich vorher auch schon.

Ich benut­ze spe­zi­el­le Kopf­hö­rer, um Geräu­sche um mich herum zu dämp­fen, wenn ich es brau­che.

Beson­de­re Sicher­heit geben mir klare, immer wie­der­keh­ren­de Struk­tu­ren und Abläu­fe. Da darf nichts umge­wor­fen werden ein­fach so. Das erschüt­tert mich dann regel­recht und ich bin zu nichts mehr fähig und völlig blo­ckiert. Das kann man sich viel­leicht nicht vor­stel­len, aber das ist ganz furcht­bar schlimm für mich. Des­halb plane ich alles ganz genau. Wenn ich von Regeln oder z. B. Rezep­ten abwei­chen muss oder soll, ist das enor­mer Stress für mich und beglei­tet mich bis in den Schlaf. Letz­tens habe ich einen Kuchen geba­cken nach einem alten Apfel­ku­chen­re­zept. Nun sollte es aber ein Kirsch­ku­chen werden und ich habe nur die Äpfel gegen Kir­schen aus­ge­tauscht. Das hat mich fast wahn­sin­nig gemacht und ich musste noch abends im Bett dar­über nach­den­ken. Pläne, Check­lis­ten und Anlei­tun­gen geben mir Sicher­heit wie ein Kor­sett. Wenn dann ein Plan gut abge­ar­bei­tet werden konnte, erfüllt mich das mit großer Zufrie­den­heit und Ruhe.

Mir helfen Klar­heit hin­sicht­lich meiner Behin­de­rung. Per­spek­ti­ven und Gren­zen sind jetzt für mich über­schau­ba­rer durch die Dia­gno­se und mein Wissen über FASD. Ich lese viele Bücher und Texte, auch aus dem Aus­land. Das hilft mir sehr. End­lich steht da schwarz auf weiß, was die Beschä­di­gung des Gehirns für weit­rei­chen­de Folgen hat. Wie viele Zusam­men­hän­ge es gibt; Neu­ro­lo­gisch, psy­chisch und phy­sisch.

Mir hilft die Selbst­hil­fe­grup­pe, der Aus­tausch – ich bin dann nicht allein und dort ver­steht man mich und hat auch noch mal andere Ideen oder Infor­ma­tio­nen. Es wäre schön, wenn noch mehr Men­schen mit FASD kommen würden.

Auch Ritua­le und regel­mä­ßi­ge Rück­zugs­mög­lich­kei­ten helfen mir, meinen Tag besser zu über­ste­hen.

Was wünscht du dir von der Gesell­schaft, deinem Umfeld und auch der Poli­tik?

Anni: Ich wün­sche mir sehr, dass die Ärzte sich aus­ken­nen und uns ernst nehmen. Wenn ich wegen meiner stän­di­gen Ängste extrem ver­krampft bin, dann wirkt sich das auf den ganzen Körper aus. Das bilde ich mir nicht ein und ich stelle mich auch nicht an. Das ist ein­fach sehr belas­tend und schmerz­haft. Da sind dann schon drei Ärzte im Boot – Ortho­pä­de, Zahn­arzt und Psych­ia­ter – und keiner kennt FASD und die Folgen. Ich habe immer den Ein­druck, die glau­ben mir nicht und denken, ich spinne.

Men­schen aus meinem direk­ten Umfeld sollen end­lich ver­ste­hen und akzep­tie­ren, dass ich eine andere Wahr­neh­mung und somit eine andere Sicht auf die Dinge habe, viel inten­si­ver emp­fin­de. Es wäre so hilf­reich, wenn ich mich schon erklä­re, dass das dann auch akzep­tiert wird, ohne Kritik oder Aus­gren­zung und Abwen­dung. Es ist ein Teu­fels­kreis; fast nie habe ich das Gefühl rich­tig zu sein. Ich wün­sche mir auch mehr Ehr­lich­keit. Man kann mir ja sagen, dass man das nicht wusste oder sich nicht so gut aus­kennt, aber die aller­meis­ten wenden sich dann von mir ab und finden mich selt­sam. Das ist glaube ich das aller­schlimms­te. Diese große Ein­sam­keit, auch in der Part­ner­schaft.

Von der Poli­tik wün­sche ich mir und erwar­te das auch end­lich, dass es mehr Auf­klä­rung gibt, über­all. In vielen euro­päi­schen Län­dern sind selbst­ver­ständ­lich Pik­to­gram­me auf den Fla­schen, die darauf hin­wei­sen, dass wäh­rend der Schwan­ger­schaft auf Alko­hol ver­zich­tet werden soll. Hier in Deutsch­land sind glaube ich 4 Sym­bo­le auf so einer Fla­sche; u. a. wie man die Fla­sche zu ent­sor­gen hat! Aber, dass das unge­bo­re­ne Kind für immer behin­dert ist, steht da nicht. Das ist doch nicht normal.

In Frank­reich z. B. fragen die Frauen- und Kin­der­ärz­te völlig selbst­ver­ständ­lich, ob Alko­hol wäh­rend der Schwan­ger­schaft kon­su­miert wird oder wurde. Ich wün­sche mir, dass Mütter das sagen können, ohne ver­ur­teilt zu werden. Oft wissen die Frauen doch noch gar nicht, dass sie schwan­ger sind. Es geht doch aber um die Hilfe für alle! Eltern, die mit einem FASD-Kind über­for­dert sind, denen geht es doch auch nicht gut. Und wenn die dann ihr Kind mit so viel Härte und Druck erzie­hen, wie mir das pas­siert ist, das wün­sche ich keinem Kind der Welt.

Ich freue mich für alle Kinder mit FASD oder über­haupt für alle Kinder, die in Fami­li­en auf­wach­sen, in denen sie ein­fach geliebt werden, wie sie sind, wo sie geför­dert werden, wie es zu ihnen passt – sie sollen ein­fach rich­tig sein, weil jedes Kind rich­tig ist. Ich habe nur Angst und Ernied­ri­gung erfah­ren, das habe ich nicht ver­dient und das hat nie­mand ver­dient.

Deine Worte tref­fen ins Herz. Du bist eine sehr starke Frau. Was möch­test du zum Schluss den Kin­dern, Jugend­li­chen und Erwach­se­nen mit FASD sagen?

Anni: Wir alle sind fasdzi­nie­ren­de Wesen! Wir sind ok so wie wir sind, mit allen Schwie­rig­kei­ten und Nöten und Stär­ken. Nehmt Hilfen an, erkennt eure „Schutz­en­gel“ – es gibt sie.

Ganz herz­li­chen Dank für deine Zeit und deine Bereit­schaft von dir zu erzäh­len.


Das Gespräch mit Anni hat mich noch lange ver­folgt. Was für ein Leben. So viel Härte, so wenig Liebe und auch so viel Kraft. Sie erzähl­te von einer Nanny, die sie beson­ders mochte und die sehr lie­be­voll zu ihr war und auch die Chefin und Vor­ge­set­ze waren ihr sehr wohl­ge­son­nen. Immer wieder zeigt sich, wie wich­tig Men­schen aus­ser­halb der Fami­lie im Leben ande­rer sein können.

Jeder braucht jeman­den, dem er wich­tig ist.